ALLES LüGE? DIE BAKTRUPPEN SURFEN IM TAT DURCH DAS "INTERNET".
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Sonntag, 20. November 1994, Nr: 46, KULTUR.
FRANKFURT. Die virtuelle Wirklichkeit erinnert überraschend an ein riesiges Wohnzimmer, der Cyberspace ist mit dikken Lagen von Perserteppichen ausgelegt, und die jungen Leute, die mit rudernden Armen durchs ,,Internet" surfen, wirken von einer erfrischenden Unbedarftheit, die der künstlichen Welt den letzten Schrekken nimmt.
Nach den Stücken ,,Peer. Du Iügst. - Ja." und ,,Super-Peer" haben sich die aus dem norwegischen Bergen stammenden BAK-Truppen von ihrer Hauptfigur Peer Gynt, nicht aber von ihrem Vorsatz verabschiedet - niemals zu lügen. Kein ganz leichtes Unterfangen, denn welches Theater erzählt keine erfundenen Geschichten. Aber im klassischen Theater mit seiner durchgehenden Handlung und seiner erkennbaren Moral fühlt sich die Truppe, die sich zu deutsch ,,die Nachhut, die Wasserträger der Vorhut, der Avantgarde" nennt, ohnehin nicht beheimatet.
Es gibt keine Bühne, keine Bestuhlung, Teppiche und drei Klaviere bilden die Dekoration, und nur Kabel und Computer trennen Publikum und Schauspieler. Das neue Stück, mit dem das Ensemble im Theater am Turm gastiert, heißt ,,Tonight", und tatsächlich wirkt es in seiner Episodenhaftigkeit, mit seinen unverbundenen Szenen und Sketchen so leicht dahingeworfen, als sei es an diesem Abend erst entstanden, als gebe es nur ein Gedankengerüst, das die Schauspieler jeder für sich nach Gutdünken ausfüllen könnten. Und gelogen wird doch, aber so offensichtlich, daß es nur dazu dient, eine andere Wahrheit hervorzuheben. Der Professor, der am Overheadprojektor die Funktion des Gehirns erklärt, erzählt so unverblümt Unfug, wenn er die Droge Ecstasy einen ,,Kommunikationsvermittler." nennt, daß klar wird, die eigentliche Kommunikation findet nicht im Kopf statt, auch nicht zwischen Schauspieler und Publikum. Die gelungene, unmittelbare Verständigung Iäuft über den Computer, der ständig über das weltweite Netzwerk ,,lnternet" und einen ,,Sprach-Encoder" Informationen aus der ganzen Welt in den Theaterraum bringt.
Und weil die Akteure so wundervoll leicht und unbekümmert diese Erkenntnis ins Absurde führen, unverdrossen mit ironischer Aufrichtigkeit spielen, singen und tanzen, bleibt als Wahrheit nur dieser Abend, dieser Auftritt mit seinen Zufälligkeiten übrig, nicht das Stück, keine Botschart, keine Interpretation. Und das hat wahrhaftig Charme. (Heute abend zeigen die BAK-Truppen ,,Tonight" zum letzten Mal im TAT.)
ULRIKE MOSER